Hinweis: In der Kategorie Kolumne
bieten wir eine Plattform für einzelne Mitglieder:innen, ihre ganz persönliche Meinung – durchaus auch einmal sehr pointiert – zu äußern und zu veröffentlichen. Dabei handelt es sich aber weder um die offizielle Meinung der Fraktion noch des Ortsverbands.
Vor fast 40 Jahren stand ich erstmals auf der Bühne als greiser und blinder Seher Teiresias in der Antigone des Sophokles. Ich hatte das Glück, das Stück mehrmals an spannenden Orten inszenieren zu können.
Es geht um „göttliches“ Recht und „irdische“ Macht. Es geht auch um das Festhalten eines Alleinherrschers an einer sinnlosen Entscheidung. Es geht um Widerstand, Zivilcourage und letztlich geht es auch um politische Modelle. „Das ist kein Staat, der einem nur gehört.“ Vor allem aber zeigt die Beschäftigung mit einer fast 2.500 Jahre alten Tragödie, wie wenig sich an den Denkmustern des Menschen, wie wenig sich an seiner Hybris geändert hat.
Vor 40 Jahren wirkte das Stück in unserer geordneten und friedlichen Welt wie ein Anachronismus. Im letzten Jahrzehnt gehörte es zu den meistgespielten auf deutschsprachigen Bühnen. Die heutige Kolumne überlasse ich sprachlos dem Chor der Thebanischen Greise.
Vieles Gewaltige ist,
und doch ist nichts gewaltiger als der Mensch.
Er fährt sogar übers graue Meer
im Sturm des Süds und durchdringt
den rings getürmten Wogenschwall.
Er müdet die erhabenste Göttin ab,
die Erde,
die unvergängliche,
unermüdliche,
wühlt sie um mit Rossen,
Jahr um Jahr,
mit sich wendenden Pflügen.Auch das hurtige Volk der Vögel fängt er,
die Geschlechter des Wildes,
des Meeres Wasserbrut,
umgarnt sie mit netzgeflochtenen Schlingen,
der überaus kluge Mensch.
Mit Kunst und List bezwingt er auch das schweifende,
bergklimmende Rind,
schirrt den mähnigen Nacken des Pferdes
ins halsumschließende Joch,
zähmt auch den unermüdlichen Bergstier.Auch Sprache und windschnelles Denken gewann er,
den Sinn für gesetzliche Ordnung
und Mittel, um beißendem Nachtfrost unter freiem Himmel
und schlimmen Regengüssen zu entgehen.
Für alles weiß er Rat.
Nie geht er ratlos der Zukunft entgegen.
Nur: Dem Tod zu entrinnen, wird er kein Mittel erlangen.
Gegen schwere Krankheit aber ersann er Hilfe.Geschick zu kunstvoller Erfindung besitzt er über alles Hoffen,
Übersetzung Otto und Eva Schönberger (https://otto-schoenberger.de/meisterdramen/antigone.html)
doch strebt er bald zum Schlimmen,
bald zum Guten.
Achtet er die Landesgesetze
und bei Göttern beschworenes Recht,
so steht er hoch im Staat.
Doch nichts gilt im Staat,
wer dem Guten fern steht,
wegen seiner tollkühnen Art.
Wer so handelt, bleibe fern meinem Herd
und den mir Gleichgesinnten!